Bewusst durchlässig, nicht oben offen und unten zu – sondern wie ein Sieb, welches das Brauchbare zurückhält und das andere loslässt. Der Artikel von Matthias Varga regt mich dazu an, jenseits vom dualistischen Denken eine innere Balance zu finden.

Eine Bemerkung zur Balancierung im Umgang mit Information und Handlungskonsequenzen von Matthias Varga (29/5/2020)
In einer Zeit, in der etwa bei der Auseinandersetzung mit der Pandemie durch emotionale Ausbrüche in verschiedenen Richtungen eine sorgsame Balancierung von Lockerung und Einschränkung (und weiteren Gesichtspunkten) behindert wird, ist es wichtig, dass wir uns in geeigneter Weise innerlich stärken, damit wir Informationen ruhig und sachlich zur Kenntnis nehmen und dadurch passender handeln können.
Natürlich gehört dazu auch, dass wir Informationen ernsthaft prüfen, und dass wir uns damit auseinandersetzen, wie man ernsthaft prüft, und dass wir bereit sind, fortlaufend inhaltlich und methodisch dazuzulernen.
Diese Fähigkeit kann auf allen Ebenen weiterentwickelt werden; sie spielt schon bei der Entwicklung von Kindern eine große Rolle, und die besten Wissenschaftler und Experten lernen ständig, inhaltlich und methodisch, weiter dazu, auch und gerade im interdisziplinären Austausch.
Ob wir uns aufrichtig darum bemühen, erkennen wir daran, ob wir Informationen , die unseren eigenen gegenwärtigen Vermutungen zuwiderlaufen, mit mindestens gleichem Interesse und eher etwas erhöhter Intensität nachgehen, wie denen, die uns in unserer eigenen Meinung bestätigen.
Betrachten wir dazu den eigenen Umgang mit Informationen etwa bei den gegenwärtigen Spannungen und Auseinandersetzungen um Lockerungen und Einschränkungen in der Pandemie.
Wenn wir zB, aus welchen guten Gründen auch immer, gerade (etwas oder ganz entschieden) für schnelle weitere Lockerungen sind, oder sogar die bisherigen Maßnahmen ganz aufgeben wollen, oder sogar das Vorliegen einer Pandemie ganz in Frage stellen, erkennen wir unsere Aufrichtigkeit daran, ob wir den unseren Meinungen zuwiderlaufenden Informationen, die die Vorsicht und Zurückhaltung bei den Lockerungen (oder sogar einzelne Wiedereinschränkungen), die Rettung des Gesundheitssystems und die Verhinderung neuer exponentieller Entwicklungen nahelegen, oder sogar gegen schon erfolgte Lockerungen sprechen, mit mindestens gleicher (eigentlich erforderlich ist sogar: höherer) Intensität nachgehen wie den Informationen, die uns in unseren Meinungen und Vermutungen bestätigen. Tun wir das nicht, und nennen die Gegenmeinungen etwas reflexhaft zB Angstmacherei, dann wissen wir, wo wir unsere Aufrichtigkeit und unser ernsthaftes Bemühen vermehren könnten.
[Nennen wir etwas Angstmacherei oder Panikmache, so zeigt das ja oft nur unsere mangelnde eigene Auseinandersetzung mit unseren Ängsten.]
(Und das heißt nicht, dass es nicht einerseits wirklich unnötige und unnötig schwächende Ängste gibt, und das es nicht andererseits vorübergehend unvermeidlich sein kann, jemand die Angst vor einer gut begründet dargelegten Gefahr zuzumuten.)
Und wenn wir zB, aus welchen guten Gründen auch immer, gerade für (etwas oder ganz entschieden) vermehrte Vorsicht bei den Öffnungsmaßnahmen sind, oder manche der gegenwärtigen Lockerungen für verfrüht, zu hastig oder zu weitgehend halten, oder innerlich schon mehr bei der Vorbereitung auf zweite und dritte Wellen, weitere Pandemien, dem Zusammenhang mit dem Klimawandel oder anderen größere Gefährdungen sind, erkennen wir unsere Aufrichtigkeit daran, ob wir den unseren Meinungen zuwiderlaufenden Informationen, die die Wichtigkeit der Öffnung und Erleichterung, den Erhalt des Wirtschaftssystems, die Wichtigkeit von Ermutigung und Zuversicht, die Linderung der sozialen und psychischen Auswirkungen der Restriktionen betonen, oder sogar die Notwendigkeit der vergangenen Einschränkungsmaßnahmen ganz in Frage stellen, mit mindestens gleicher (eigentlich erforderlich ist auch hier wieder: höherer) Intensität nachgehen wie den Informationen, die uns in unseren Meinungen und Vermutungen bestätigen.
Tun wir das nicht, und nennen die Gegenmeinungen etwas reflexhaft Verharmlosung oder Verantwortungslosigkeit, dann wissen wir wieder, wo wir unsere Aufrichtigkeit und unser ernsthaftes Bemühen vermehren könnten.
[Nennen wir etwas Verharmlosung oder Verantwortungslosigkeit, so zeigt das ja oft nur unser eigenes Vernachlässigen und unzureichendes Befassen mit anderer Nöten und Gefährdungen als den eigenen.]
(Und das heißt nicht, dass es nicht einerseits wirklich unzulässige Verharmlosungen gibt, dreiste Leugnung gut dokumentierter Tatsachen, bis zur gezielten Fälschung, und dass es nicht andererseits vorübergehend unvermeidlich sein kann, jemand die Mitverantwortung für die Konsequenzen von Maßnahmen vorzuhalten und aufzubürden.)
Die Balancierungsaufgabe, die sich uns stellt, ist eine mindestens fünffache: der Schutz des Lebens, der Erhalt des Gesundheitssystems, der Erhalt des Versorgungs- und Wirtschaftssystems, der Schutz und die Stärkung von Freiheit, sozialer Verantwortung und Menschenrechten, und die Entwicklung von Gelassenheit und Sinnhaftigkeit. (Und dies sind nur grobe Charakterisierungen von fünf zu betrachtenden Dimensionen, denen fast jeder Einzelne Gesichtspunkte hinzufügen wollen wird, die ich als Ganzes aber in einer eher formalen Systematisierung begründet sehe.) Wenn immer wir einen dieser Gesichtspunkte ganz aus dem Auge verlieren, entwerten wir unsere Bemühungen für die anderen Gesichtspunkte teilweise oder ganz.
Wir werden bei einer solchen vielfachen Bemühung um verschiedene Grundgesichtspunkte nie völlig in Balance sein. Es geht nur um die Bereitschaft und Einübung einer solchen vielfachen Balancierung. Es geht um ständige Rebalancierung dieser Gesichtspunkte und NIE um die dauernde Verabsolutierung eines einzelnen davon.
Und es geht um Rhythmen der Berücksichtigung der Gesichtspunkte im fortlaufenden Rebalancierungsprozess. In diesen Rhythmen werden und müssen einzelne Gesichtspunkte vorübergehend zurückgestellt werden. Niemals darf einer dieser Gesichtspunkte jedoch dauerhaft geleugnet werden, da sonst unser Handeln nicht die notwendige Nachhaltigkeit haben wird, sondern schließlich durch die sich zu Worte meldenden vernachlässigten Gesichtspunkte wieder ganz oder teilweise entwertet wird.
[Einschränkung und Öffnung jeweils für sich entwerten einander, ihre Balance allein garantiert noch nicht den Erhalt von Versorgungssystem, sozialem Schutz und Menschenrechten, und all das garantiert noch nicht die Erneuerung von Aufrichtigkeit , Verbundenheit, wechselseitiger Wertschätzung und innerer Gelassenheit, ohne die diese Balancierungen kaum gelingen werden, und das alleinige Betonen der Gelassenheit gefährdet unsere immer wieder nötige Tatkraft und Entschiedenheit, derer wir bedürfen im Wissen um all unsere Fehlbarkeit.]
Wir müssen uns also ein komplexes kontroverses Netzwerk von Freunden und Bekannten und gesellschaftlichen Gruppen wünschen und das fördern, um die für geeignetes Handeln notwendige Fähigkeit der ständigen vielfachen Rebalancierung zu gewinnen und weiterzuentwickeln.
(Und sowie ich es kann, sage ich das gerne noch einfacher.)
Wir brauchen wertschätzende Kontroverse und Ringen um geeignete Wege in Respekt und Wertschätzung und Verbundenheit. Ohne Gegenwerte verkommt jeder Wert durch Über- oder Unterbetonung. Wir brauchen Opposition um Werte lebendig zu halten- Opposition in Achtung und Wertschätzung, nicht destruktive Pubertätsreaktionen, egal wie verständlich sie sein mögen. (Auch Pubertät sollte überlebt werden können und eine vorübergehende Zeit bleiben.)
Und natürlich sind wir alle fehlbar, natürlich irren wir, und natürlich können und sollten wir ständig dazulernen und lebendige Fäden eines neuen Gewebes werden, eines Miteinander-Aneinander-Lernens, einer Symmathesie (Nora Bateson), durch die wir teilhaben und teilnehmen und beitragen können bei der Umwandlung, die sowieso schon lange ansteht und deren mögliche Form für uns erst allmählich auftaucht und ahnbar wird, so wie wir im Kind den Erwachsenen nur vorahnen aber noch nicht ganz kennen können.
Matthias Varga von Kibéd gründete 1994 gemeinsam mit seiner Ehefrau Insa Sparrer das SySt-Institut für systemische Ausbildung, Fortbildung und Forschung in München. Schwerpunkt der Arbeit am SySt ist die Entwicklung der Systemischen Strukturaufstellungen. Seit 1995 werden an diesem Institut auch Ausbildungen zum systemischen Therapeuten/Berater mit Schwerpunkt Systemische Strukturaufstellungsarbeit durchgeführt. (aus Wikipedia)

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