Wilhelmine war ursprünglich die Leitgeiss. Furchtlos und stoisch, und meist besonnen ging sie voran. Zumindest so kam es mir vor. In jüngeren Jahren attackierte sie Chiara, die Untergeiss, was ihr in späteren Jahren teuer zu stehen kam.
Irgendwann gab Wilhelmine die Führung ab, zog sich zurück.
Von da an herrschte Chaos in der Herde. Chiara packte ihre Chance und piesackte Wilhelmine. Ciotti begann damit, Wilhelmine wie ein brünftiger Bock zu verfolgen und zu besteigen. Ihre Tochter Albertine, die immer bei Wilhelmine war, beschützte ihre Mutter wenn möglich. Aber auch nicht immer.
Ciottis Zustand nahm im Frühjahr 2020 unerträgliche Ausmasse an: Sie verfolgte abwechslungsweise Wilhelmine und Chiara wie ein Bock, biss sie in den Hintern und bestieg sie. Auch beim Fressen war sie noch dominanter geworden als früher schon. Am Ende versuchten wir ihr mit einem Hormonimplantat zu helfen. Aber es wurde nicht besser und Ciotti übernahm die Führung nicht.
Irgendwann rangen wir uns zum Entschluss durch, Ciotti von ihrem Treiben zu erlösen. Sie drohte Wilhelmine zu Tode zu stressen.
Aber es kam anders: Wilhelmine wirkte immer unruhiger, unzufriedener. Sie meckerte, manchmal schien sie sogar mit Albertine Diskussionen zu haben, wie mir schien. Albertine verhielt sich auch nicht mehr immer loyal.
Ein paarmal lag Wilhelmine am Morgen im Stall auf dem Sädel, unter dem Sädel und weigerte sich aufzustehen. Dank einem entscheidenen Hinweis von Zottelgeiss begannen wir Chiara und Ciotti wegzusperren. Denn offensichtlich ist es für Geissen sehr wichtig, dass sie ein paar Stunden in Ruhe fressen können. Unter den gegebenen Umständen war das nicht mehr möglich.
Am Abend des 1. Juli – ich hatte die Geissen in den Stall getrieben – schrie Wilhelmine im Stall auf eine Art und Weise, die mich sehr beunruhigte. Sie wirkte sehr gestresst und ich wusste nicht, ob sie es überlebt. Am Morgen des 2. Juli hörte ich auf der Weide wieder so ein Rufen, rannte hoch. Da lag sie, umgeben von den anderen Geissen und schrie. Ich rief sofort Martin den Tierarzt an, der aber in einer Weiterbildung und unabkömmlich war. Er verwies mich an Risch. Ich sprühte Wilhelmine etwas Pet Remedy an und massierte sie an der Brust. Das schien etwas zu helfen. Ich konnte sie schliesslich bewegen und von der Weide weg durch den Garten hindurch, vorbei an Rosenbusch und Mehlbeere auf die untere Koppel führen. Albertine wollte natürlich unbedingt auch mit, liess sich aber nicht einfangen ohne Halsband. Irgendwann öffnete sie aber die Legi selbst und ging runter.
Die folgenden Tage separierte ich die beiden Chiara und Ciotti. Aber sie schienen auch nicht zufrieden zu sein. Am Samstag liess ich sie mit auf die Weide hoch, aber da rief Wilhelmine wieder. Und ich nahm sie wieder runter.
Ich war verzweifelt, weil ich nicht mehr wusste, wie ich Wilhelmine helfen kann. Dann, am Abend des 6. Juli beschlich mich ein Gefühl und ich sagte zu Marianna: «Wenn wir jemanden aus der Herde nehmen müssten, dann ist es eigentlich Wilhelmine.»
Am 7. Juli ging ich wie immer in den Stall, um zunächst Chiara und Ciotti rauszulassen und hochzuführen auf die Weide. Marianna sagte noch, sie komme gleich helfen. Ich schaute in den Stall und da lag Albertine vor dem Türchen. Ich Blick sagte mir alles. Im Hintergrund sah ich unter dem Sädel Wilhelmine liegen. Sie hatte sich aus der Herde genommen.



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